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Zufall & Freiheit

Wenn es keinen Zufall gibt, kann es dann Freiheit geben?

von Abdullah Bubenheim

Eine Anzahl angesehener Wissenschaftler ist zu der Erkenntnis gekommen, daß die Entstehung des Lebens auf der Erde, ja selbst dessen einfachster Bausteine nicht durch Zufall zustande gekommen sein kann, da die Wahrscheinlichkeit, daß solch komplizierte Gebilde, wie die einfachsten Eiweißmoleküle nicht nur in ihrer Zusammenstellung im richtigen Zahlenverhältnis, sondern auch der richtigen räumlichen Anordnung ihrer Atome entstehen, nahezu null ist. Und solche Grundbausteine allein sind noch keine lebende Zelle. Um dieser unbeantwortbaren Frage auszuweichen, haben sich die meisten (atheistischen) Naturwissenschaftler darauf verlegt, zu behaupten, die Bausteine des Lebens seien auf anderen Planeten entstanden und mit Meteoriten auf die Erde gelangt, womit sie die Frage einfach verschieben, anstatt sie zu beantworten, und es der Phantasie überlassen, sich den Planeten vorzustellen, wo die zur Entstehung des Lebens günstigen Bedingungen herrschten.

Wie Versuche bspw. mit der Fruchtfliege Drosophila Melanogaster gezeigt haben, können zwar einzelne Erbanlagen unwillkürlich und ungezielt, also durch Zufall, durch äußere Einflüsse, wie bestimmte Strahlung oder chemische Stoffe, verbessert werden, jedoch nur auf Kosten der gleichzeitigen Verschlechterung anderer Eigenschaften, so daß z.B. einige Exemplare eine Verbesserung der Flugfähigkeit aufwiesen, jedoch nicht überlebens- oder fortpflanzungsfähig waren. Sieht man sich die Katastrophe an, die durch die Strahlung von Uranmunition im Irak und anderen Ländern verursacht worden ist, so sind dabei bisher nur verunstaltete, meistens nicht überlebensfähige Kinder gezeugt worden, jedoch kein höher entwickelter Mensch mit verbesserten Eigenschaften. Selbst angenommen, es wären durch äußere Einflüsse bei Exemplaren einer Art bestimmte Anlagen in ihrer Erbmasse verändert worden, ohne daß dabei andere Anlagen geschädigt wurden, so müssen es erstens dieselben Anlagen sein und zum anderen müssen sich mindestens zwei Exemplare unterschiedlichen Geschlechts dieser Art, bei denen die entsprechende Änderung eingetreten ist, auf dieser Erde begegnen und dann paaren, um neue Exemplare mit dieser verbesserten Eigenschaft zu zeugen. Man hat bisher immer nur tote Zeugen der Evolutionstheorie gefunden, einzelne fossile Glieder in einer angenommenen Kette, doch war niemand als Zeuge dabei, daß diese Glieder tatsächlich durch reinen Zufall aneinandergefügt worden ist. Das läßt sich mit einem Film vergleichen, der aus Einzelbildern besteht, die rasch hintereinander bewegt, beim menschlichen Beobachter den Eindruck von zusammenhängenden Bewegungen erwecken, obwohl er nicht zu sehen bekommt, was zwischen den einzelnen Bildern liegt oder geschehen ist.

Der Koran bezeichnet die Entwicklung des Menschen im Mutterleib, von der Befruchtung der Eizelle bis hin zur Geburt als "Schöpfung", ebenso wie die Entstehung des Menschen als Art als "Schöpfung" bezeichnet wird. In ersterem Fall läuft diese Schöpfung stets nach einem bestimmten, vorgegebenen Plan ab; warum sollte die Schöpfung des Menschen als Art nicht auch nach einem bestimmten Plan abgelaufen sein? - Nach einem wohldurchdachten, großartigen Plan, nicht jedoch in einer Kette unzähliger nahezu unmöglicher Zufälle.

In diesem Universum gilt als oberstes Gesetz dasjenige der Kausalität, daß jedes noch so geringe Ereignis seine Ursache haben muß, womit sich die Frage stellt, wer den Urknall ausgelöst hat - wenn wir von der Entstehung des Universums durch einen Urknall ausgehen. Wer hat Gott erschaffen? Und wer hat wiederum denjenigen erschaffen, der Gott erschaffen hat usw.? Der Koran drückt es ganz einfach aus: "Er ist der Erste und der Letzte, der Offenkundige und der Verborgene" (vgl. erste Verse der 57. Sure) - der Offenkundige für jeden, der Ihn erkennen will, und der Verborgene, für jeden, der Seine Existenz verleugnet und Ihn nicht erkennen will.

In einer als authentisch eingestuften prophetischen Überlieferung heißt es: "Gott war, und es war nichts vor Ihm." Aber was heißt "vor" und "nach" Gott? Das alles liegt außerhalb unseres Vorstellungsvermögens, ebenso wie die Vorstellung des absoluten Nichts.

Was ist überhaupt die "Natur"? Um etwas zu erschaffen und die Kette der Ereignisse in der Kausalität in Gang zu setzen, müßte sie einen eigenständigen Willen und einen genauen und universalen Plan haben, nach dem ihre Schöpfung abläuft. Und wenn diese Eigenschaften auf sie zutreffen sollten, dann nennen wir sie besser "Gott" und nicht "Natur"!

Da Gott außerhalb der Zeitlichkeit und Räumlichkeit steht und die Zeit und deren Gesetze erschaffen hat, mit denen Er uns - und all Seine anderen Geschöpfe - so sehr umgibt, daß wir uns gar nichts anderes vorstellen können, sind Ihm Vergangenheit und Zukunft bekannt, und Er hat es nicht "eilig", während der Mensch "aus Übereilung erschaffen ist" (vgl. Sure 21, 37). Den meisten Menschen geht es nicht schnell genug, daß ein Ereignis eintritt, und sie sind stets ungeduldig. Auch glauben sie, mit "Aktionismus" das Schicksal in die eigene Hand nehmen zu können.

Aber, "das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen" ist nach islamischer Ansicht Torheit, da man das Schicksal nicht in die eigene Hand nehmen kann; es hält einen in der Hand, ohne daß man sich dessen bewußt ist. Nach Arthur Schopenhauer würde ein Stein, der von einer Hand geworfen wird, besäße er ein Bewußtsein, meinen, daß er selbst es ist, der sich aus der Hand des Werfers befreit und aus eigenem Antrieb auf der Wurfbahn durch die Luft bewegt. Diese Art von Menschen wird auch im Koran erwähnt; sie meinen frei zu sein und keinen Gott zu haben, in Wirklichkeit sind jedoch ihre persönlichen Neigungen und Gelüste ihr Gott, ohne daß sie sich dessen bewußt sind. Bereits der römische Philosoph Seneca kam zu der Erkenntnis: "In einem Königreich sind wir geboren: Gott gehorchen ist Freiheit" [De vita beata - vom glücklichen Leben 15.7.]. Dieser Gehorsam Gott gegenüber befreit uns davon, unserer Triebseele in deren Neigungen und Gelüsten und derjenigen anderer Geschöpfe zu folgen und zu gehorchen.

Die Frage nach der Vorherbestimmung und dem freien Willen des Menschen war der erste große Streitpunkt der islamischen Theologie bereits Ende des ersten Jahrhunderts d.H. Im Koran gibt es sowohl Stellen, die Aussagen zugunsten der Vorherbestimmung bis in die kleinsten Dinge enthalten, wie: "... wo doch Allah euch und das, was ihr tut, erschaffen hat?" [Sure 37, 96] als auch solche zugunsten der freien Willensentscheidung des Menschen. Diese schwere Kontroverse wird uns in einem frühen Dokument verdeutlicht, dem Sendschreiben des Kalifen Umar II. (717-720 n.Chr.) an einen der Befürworter der uneingeschränkten Willensfreiheit (in: Josef van Ess, Anfänge muslimischer Theologie, Beirut 1977, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden). In einem anderen Fall behauptete ein Dieb, der zur Verurteilung vor den Kalifen oder dessen Statthalter gebracht wurde, es sei Gottes Wille gewesen, daß er gestohlen habe, daher sei er selbst unschuldig und freizusprechen. Daraufhin wurde er nicht wegen Diebstahls zur Abtrennung der rechten Hand verurteilt, sondern wegen Apostasie oder Häresie zum Tode.

Ich persönlich neige zu der Ansicht, daß uns das meiste in unserem Leben vorherbestimmt ist und außerhalb unserer freien Willensentscheidung liegt. Da es für Gott keine Zeit gibt, weiß Er im voraus genau, wie sich jeder entscheiden wird und hat ihm daher das vorherbestimmt, was ihm seiner Entscheidung entsprechend zukommt, bzw. was sich für ihn aus seiner getroffenen Entscheidung an Folgen und Wirkungen ergibt. Die Dinge, über die wir frei entscheiden können, betreffen nur die Wahl zwischen Gut und Böse, da dies für unsere Zukunft im jenseitigen Leben entscheidend ist, während alles andere in unserem Leben nur Beiwerk ist, um die Prüfung schwieriger zu machen und die eigentlichen Prüfungsaufgaben zu verschleiern und zu verstecken. Dieses Beiwerk ist uns unabänderlich vorherbestimmt und unterliegt nicht unserem Willen und unserer freien Entscheidung. Es sind nur vereinzelte, sehr kurze Augenblicke, in denen wir uns frei für Gut oder Böse entscheiden können, wie die Begegnung mit jemandem, der unsere Hilfe aus Lebensgefahr benötigt, und wo wir uns blitzschnell entscheiden müssen, ob wir ihm helfen oder nicht, oder wenn sich einem die Gelegenheit ergibt, von einer weltlichen Macht unbeobachtet, irgendetwas zu stehlen und man nicht aus einer weltlichen, sondern moralischen Überlegung heraus die augenblickliche Entscheidung trifft, es nicht zu tun, oder wenn man zu der Erkenntnis gekommen ist, daß der Islam die Wahrheit ist, und vor der Wahl steht, sich genau im Augenblick, in dem man sich dessen bewußt ist, dafür zu entscheiden, dieser Erkenntnis zu folgen und den Islam anzunehmen oder nicht, da im nächsten Augenblick dieses Bewußtsein bereits wieder verschwunden sein kann und sich die Gelegenheit hierzu vielleicht nicht mehr bietet. Ohne die freie Willensentscheidung auch nur in diesen vereinzelten kurzen Augenblicken, von denen einige äußerst und andere weniger bedeutend sind, ergäbe das menschliche Leben keinen Sinn.

Auf Grund des o.g. Koranverses kommt der große islamische Mystiker Ibn ´Ata'iLlah zu dem Schluß, daß der Mensch letztlich nichts hat, was wirklich von ihm selbst kommt, das er Gott als Leistung darbieten könnte, da sogar seine Taten von Gott erschaffen sind; nichts gehört ihm, und in völliger Armut steht er vor Gott. Einzig seine guten Absichten, bzw. die in kurzen Augenblicken gefaßten Entscheidungen für Gut oder Böse sind es, die er Gott vorlegen kann.